ADHS in der Schulzeit: 10 Jahre – 12 Schulen

Thimo* (27) spricht über seine Schulzeit mit ADHS, die durch häufige Schulwechsel, Verwarnungen und Verweise gekennzeichnet war und wie sich sein Leben gewandelt hat.

Wie und wann wurde deine Diagnose „ADHS“ gestellt?

Ich habe meine Diagnose relativ früh erhalten. Ich glaube, das muss so in der 2. oder 3. Klasse gewesen sein. In der Grundschule war ich immer hibbelig und fiel häufiger durch Gewaltkonflikte auf, da ich oft sehr impulsiv und aufbrausend gehandelt habe. Neben meiner Lese-Rechtschreibschwäche konnte ich mich nur schwer auf eine Sache konzentrieren und war immer zappelig und sogar etwas zittrig. Deshalb wurde ich auch des Öfteren aus dem Unterricht geworfen. Infolgedessen haben meine Lehrer meinen Eltern empfohlen, mit mir einen Kinderpsychologen aufzusuchen. Dort wurde dann die Diagnose gestellt: ADHS. An den Prozess der Diagnose kann ich mich heute kaum noch erinnern. Ich kann mich aber erinnern, dass ich kurz medikamentös eingestellt wurde. Jedoch wehrte sich meine Mutter dagegen, weshalb die Behandlung abrupt abgebrochen wurde.

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Wie haben sich die ADHS-Symptome bei dir geäußert und wie äußern sich diese heute?

Ich habe sehr oft die Schule gewechselt bzw. wechseln müssen. Aufgrund meiner Impulsivität, Drogenproblemen und diversen Gewaltdelikten war ich auf insgesamt 12 verschiedenen Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen und auf einem Internat. In der 10. Klasse wurde ich sogar von der Polizei zur Schule gebracht und nachmittags wieder abgeholt, weil ich sonst gar nicht zur Schule gegangen wäre. Das Warten auf die Pause war in der Schule am schlimmsten. Währenddessen war auch das Schweigen eine große Herausforderung. Ich hatte immer das Bedürfnis zu reden. Das geht mir aber auch heute noch so. Wenn ich Termine habe, die bis zu zwei Stunden dauern, fällt es mir sehr schwer stillzusitzen und aufmerksam zu bleiben.

Hinzu kamen Suchtprobleme, die bei mir schon mit 12 Jahren mit dem Rauchen angefangen haben. Mit 13 habe ich dann täglich gekifft und mit 14 kamen weitere illegale Drogen dazu. Mit 18 löste eine Sportsucht die Drogensucht ab, während der ich teilweise 7-Mal pro Woche zum Sport gegangen bin. Und auch eine Glücksspielsucht spielte immer mal wieder eine Rolle in meinem Leben. Als ich auf dem Schwererziehbaren-Internet war, wurde mir ein Anti-Aggressions- und Drogentrainer zur Seite gestellt. Rückblickend hat er mir den Impuls gegeben, mit den Drogen aufzuhören, den ich einige Jahre später umsetzen konnte.

Allgemein sind meine Symptome im Laufe des Lebens weniger geworden bzw. ich habe gelernt, mit diesen umzugehen. Ich bin zwar immer noch impulsiv, unruhig und ungeduldig, allerdings kann ich es heute besser kontrollieren.

Wie hat dein Umfeld auf die Diagnose ADHS reagiert und wie seid ihr damit umgegangen?

Im Schulkontext habe ich von den älteren Lehrern wenig Verständnis erfahren. Aufgrund des geringen Wissensstandes der Lehrer habe ich keine individuelle Förderung erhalten. Lediglich meine Rechtschreibung wurde aufgrund meiner Lese-Rechtschreibschwäche nicht bewertet. Dadurch habe ich mich aber eher ausgegrenzt gefühlt. Als Kind hatte ich kein Verständnis dafür und habe nicht verstanden, warum ich anders bin. Auch die Kommunikation mit meiner Mutter war als Kind/Jugendlicher sehr schwierig. Ich stelle mir heute manchmal die Frage „Was wäre, wenn…? Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn…? Wie wäre es gewesen, wenn ich eine klassische Therapie erhalten hätte? Hätte ich andere Substanzen dann weggelassen?“. Am Ende sind es nur Spekulationen und ich werde es nie erfahren.
Heute spreche ich im privaten Umfeld offen über meine ADHS. Im beruflichen Kontext halte ich das noch etwas zurück, da es dort für mich negative Auswirkungen haben könnte – es gibt leider immer noch zu viele Vorurteile. Zu vielen Menschen fehlt das Bewusstsein und sie reden ADHS klein oder stempeln einen als faul ab, obwohl sie gar nicht wissen, was eigentlich dahintersteckt. Was mir sehr geholfen hat, war der Austausch mit einem Kumpel, der selbst ADHS hat. Es ist wichtig, zu sehen, dass man nicht allein ist.

Was wäre, wenn...? Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn...?

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Welche Vorteile deiner ADHS schätzt du?

Ich mag meine kommunikativen Fähigkeiten. Ich rede unglaublich gerne und glaube, dass mir das auch ganz gut liegt. Im beruflichen Kontext - als Mitarbeiter im Vertrieb - kann ich mir diese Eigenschaft sehr zu Nutze machen. Eine weitere positive Eigenschaft vieler ADHSler ist außerdem eine hohe emotionale Intelligenz. Wir sind sehr einfühlsam, verständnisvoll und hilfsbereit. Davon profitiert auch das nähere Umfeld oft sehr. Außerdem werden vor allem in meinem Freundeskreis meine kreative Herangehensweise und meine Art zu denken geschätzt. Durch meine Kreativität schreibe ich auch gerne und würde behaupten, dass ich auch darin trotz meiner Lese-Rechtschreibschwäche nicht schlecht bin. Das hat mir mein Studium etwas erleichtert. Obwohl es trotzdem für mich eine ziemliche Herausforderung war, die Uni und meinen Nebenjob unter einen Hut zu bekommen. Fluch und Segen zugleich ist das risikoreichere Handeln. Manchmal ist es cool, wenn man sich nicht ständig über die Zukunft Gedanken macht und sich auch mal etwas traut. Das ist aber natürlich auch mit einigen Risiken verbunden.

Was würdest du anderen ADHS-Betroffenen mit auf den Weg geben?

Bleibt dran und gebt euch selbst nicht auf. Das klingt zwar kitschig - es stimmt aber auch!

Ich war selbst in der unglücklichen Situation, als ich meinen Hauptschulabschluss mit 4,0 bestanden habe und sehr plötzlich Erwachsen war und vor der Frage stand, ob ich mein Leben nun verspielt habe. Allerdings hatte der Anti-Aggressions- und Drogentrainer auf dem Schwererziehbaren-Internat einen ähnlichen Werdegang wie ich. Er ist mir nachhaltig im Kopf geblieben und hat mich beeindruckt. Dass er studiert hatte, motivierte mich und bestärkte mich in der Entscheidung selbst studieren zu wollen. Ich wusste nun, dass studieren trotz schwierigem Lebenslauf möglich ist. Also habe ich eine Ausbildung angefangen und durch diese meinen Realschulabschluss erhalten. In der Abendschule habe ich dann mein Abitur nachgeholt und mich anschließend für ein Studium beworben. Vergangenen Monat habe ich meine Bachelorarbeit abgegeben und mein Studium damit erfolgreich abgeschlossen. Nach meinen zahlreichen Schulverweisen hätte ich nicht gedacht, dass ich dazu fähig bin. Aber ich habe es geschafft!

Und einen Rat habe ich noch für alle Eltern: Ihr seid nicht an der ADHS eurer Kinder schuld.
Also macht euch keine Vorwürfe und versucht trotz allem, bedingungslos hinter euren Kindern zu stehen.

* Der Name und das Auftreten wurden zum Schutz der betroffenen Person geändert.

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Bleibt dran und gebt euch selbst nicht auf.

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